Wir schreiben Geschichte

15 MICE Story Tirol Vorfreude, kein Hauch von Begeisterung. Nur das blaugrüne Pulsieren der VR-Lin- sen blinkte ihr entgegen – das war das Zeichen, dass Lina die Animation starten konnte. „Es geht aufwärts – gemeinsam Berge bezwingen“ hatte der Konzern für seine Manager:innen gebucht. Eine virtuelle Wanderung hoch zur Nordkette, begleitet von positiven Affirmationen, NLP-Kniffen und Achtsamkeitsübungen. Alles, was die Teilnehmenden tun muss- ten, war auf der Stelle zu treten und die Animation auf sich wirken lassen. Lina huschte ein Lächeln über das Gesicht. Es sah schon ein wenig komisch aus: Sieben erwachsene Menschen, die im Kreis standen, sich an den Händen hielten und so taten, als würden sie tatsächlich berg- wärts wandern. Es dauert keine zwanzig Minuten, bis etwas passierte, was Lina in letzter Zeit immer häufiger beobachtete: Ein Teilnehmer der virtuellen Wander- gruppe begann zu wanken und zu zittern. Um dann wie ein Stein umzufallen. Eine Nebenwirkung der VR-Linse. Nicht jedes Gehirn konnte mit der Flut von Ein- drücken aus dem virtuellen Programm umgehen. Lina spürte, wie ein Anflug von Ärger in ihr aufkeimte. Warum ging man auf den Teambuilding-Events denn nicht richtig wandern? Sie hatte das schon öfter vorgeschlagen, ihre Vorgesetzen wollten aber nichts davon hören. Dabei ging von den Bergen keine Gefahr mehr aus, betonten die Geologen und Glazio- loginnen immer wieder. Die Natur war zur Ruhe gekommen und begann, sich langsam, aber sicher zu erholen. Lina fasste einen Entschluss und leitete die Ausstiegssequenz ein, um ihre Gruppe zurück ins Hier und Jetzt zu holen. „Jetzt zeige ich euch, wie sich Berge in echt anfühlen“ hörte sie sich selbst sagen. Überrascht von ihrem eigenen Wagemut, marschierte sie in Richtung Wald. Die Gruppe folgte ihr zögerlich. Lina kannte den Weg aus den Erzählun- gen ihres Großvaters und konnte man den Gerüchten trauen, gab es dort oben auf der Arzler Alm eine Gruppe junger Aussteiger, die sich eine Kuh hielt und über den Sommer echten Käse gemacht hatte. Ob der wohl besser schmecken würde als das, was aus Insektenprotein und Erbsenpulver bestand und vom 3D- Drucker produziert wurde? Lina bemerk- te, dass auch ihre Gruppe zunehmend aufgeregter wurde. Fröhlich plappernd und mit roten Wangen trappelten sie im Gänsemarsch den Waldweg entlang. Wie schön das Herbstlaub unter ihren Füßen raschelte! Ehe sie sich versahen, waren sie angekommen. Es stimmte! Die Alm war wieder bewirtschaftet. Und die Kuh und den Käse gab es wirklich. Lina spürte, wie sich eine kleine Freudenträ- ne ihren Weg über ihre Wange bahnte. „Willkommen zurück auf dem Berg. In echt.“ sagte sie und wischte sich verlegen die Träne aus dem Gesicht. „Und was machen wir später?“ rief jener Teilneh- mer, der sich überraschend schnell von seinem VR-Linsen-Trauma erholt hatte und jetzt munter Käse mampfte. Lina musste nicht lange überlegen. „Einfach nur hier sitzen, die Natur genießen und ein bisschen plaudern“, antwortete sie. Denn beim Reden, auch das hatte sie von ihrem Großvater gelernt, da kommen die Leute zusammen. Das war in Tirol immer schon so. Mit ein bisschen Glück wird es auch in Zukunft so geblieben sein._

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